Hunderte schnelle Tritte hallten durch die Flure. Überall bewegten sich Menschen und trampelten in dieselbe Richtung. Vergleichsweise leise heulte im Hintergrund eine Sirene auf und ab. Wer noch nicht im Gleichschritt dem Strom folgte, der zog sich noch in seiner Stube um und bereitete sich vor. Graue Uniformen mit schwarzen Stiefeln. Dicke Panzerwesten und Helme, die bis zum Mund alles verdeckten. So marschierten die Soldaten aus ihren Zimmern. Einige trugen Sturmgewehre vor der Brust, andere hielten breite Schilde und Schwerter.
Nur in einer einzigen Stube im Gang passierte nichts. Die Tür war geschlossen. Ein gedimmtes Licht leuchtete das Zimmer aus. Geradeso ausreichend, um sich orientieren zu können. Anders als in den Nachbarstuben war hier nur eines der vier Betten belegt. Überall lagen aufgeschlagene Bücher und Zeitschriften herum, begraben unter aufgebrochenen Packungen alter Essensrationen. Die Luft war dick und roch nach getrocknetem Schweiß.
Der Türgriff drehte sich und eine großgewachsene Frau mit dunkler Haut betrat das Zimmer. Der Mief ließ sie husten. Sie zog die Tür weiter auf, um etwas frische Luft herein zu lassen. Im unteren Abteil eines der Doppelstockbetten bewegte sich jemand. Es zog sich die dünne Schlafdecke bis über den Kopf und brummte laut.
„Hauptschützer Weizholt! Findest du nicht, du solltest dich auch bewegen?!“, sagte die Frau streng, doch als Antwort erntete sie nur ein erneutes Brummen.
Indem sie mit ihren Füßen die Berge von Büchern und Verpackungen zur Seite schob, bahnte sie sich einen Weg durch das Gerümpel. Das Getrampel im Flur wurde schon deutlich leiser. Langsam, aber in keiner Weise liebevoll zog sie die Schlafdecke fort. Ein junger Mann in Embryonalstellung kam zum Vorschein. Ebenso wie die Quelle des unangenehmen Geruchs. Sie ließ sofort die Decke fallen und wischte sich die Hände an ihrer grauen Uniform ab.
„Boah, Erik! Wie lange hast du dich nicht mehr gewaschen?!“
„Das geht dich gar nichts an“, erwiderte der Mann.
„Als Ärztin der Kaserne geht mich die Hygiene meiner Patienten sehr wohl was an!“
„Schickst du auch all deine Patienten raus in den Tod? Das ist doch das, was du von mir willst, oder? Dass ich in einem sinnlosen Kampf in dieser sinnlosen Welt mein sinnloses Leben riskiere.“
„Dein wehleidiges Getue kann ich mir echt nicht mehr anhören“, sagte die Frau und packte Eriks Bein. Sie zog ihn unsanft aus dem Bett, bis er hinunter auf den Boden sackte. Er drehte sich so, dass er aufrecht sitzen und sich an den Bettkasten anlehnen konnte. Lange, fettige Haare fielen ihm über das Gesicht. Zentimeterlange Barthaare verschleierten seinen Mund. In grünem Shirt und Boxershorts saß er da. Ein dünnes Metallkonstrukt hing dort hinab, wo eigentlich sein rechter Arm sein sollte. Auch das rechte Bein wurde vom Knie abwärts durch eine rudimentäre Prothese ersetzt. Erik blickte hinauf zu seiner Ärztin.
„Was an dem hier ist nur ein Getue?“ Er hob seinen künstlichen Arm hinauf, bis die Finger sein Blickfeld erreichten. Die silikonüberzogenen Plastikgelenke bewegten sich durch seinen Willen, doch spüren konnte er nichts. „Alles, was wir tun, hat doch keinen Sinn mehr“, sprach er weiter. „Die Welt ist gelaufen. Seit Jahren regnet es nicht mehr, die Tiere da draußen verwandeln sich immer mehr in Monster und die letzten paar Menschen bringen sich vor unserer Haustür gegenseitig um. Jetzt verrate mir, Amelie, was soll ICH dagegen machen?“
Amelie blickte ihn einen Moment lang an, dann schüttelte sie den Kopf. Sie öffnete den Schrank neben ihm und zog einen Satz frischer Kleidung heraus. Als sie ihn vor ihm auf den Tisch legte, sagte sie: „Wie wär‘s, wenn du endlich mal deiner Pflicht nachkommst? Wer essen will, muss arbeiten! Wir können hier niemanden durchfüttern, der den ganzen Tag nur rumliegt und sich selbst bemitleidet.“ Beim Verlassen der Stube fügte sie hinzu: „Und überdramatisiere den Einsatz nicht, bisher ist noch niemand bei einem Angriff gestorben, weder von uns noch von den anderen.“
Erik blickte auf die Kleidung vor sich und seufzte laut. Dann raffte er sich auf und begann, sich widerwillig anzuziehen. Aus dem offenen Schrank nahm er sich einen Helm und eine Weste, die er auch gleich anlegte. Er trat aus seiner Stube heraus. Die Luft erschien ihm kalt. Sie war frisch und der Geruch von Metall lag darin. Nichts Ungewöhnliches für das Leben zwölf Meter unter der Erde.
Es war ruhig im Gang. Die anderen Soldaten waren bereits an der Oberfläche und die Sirene war deaktiviert worden. Nur ein rotierendes rotes Licht bewegte sich am anderen Ende des Flures und tauchte den Abschnitt in einen aggressiven Farbton. Er schüttelte den Kopf und ging hinüber zum Waffenschrank.
Jeder Soldat in der Second Base hatte seine eigenen Waffen. Die Schützer hatten ihre Gewehre und Pistolen, die Jäger ihre Schwerter und Schilde. Und jeder musste darauf achten, dass seine Waffen einwandfrei funktionierten. Wenn das Gewehr aber einmal streikte oder die Klinge gesplittert ist, konnte sich jeder an diesem Waffenschrank bedienen. Erik hatte selbst nichts von all dem. Er öffnete das metallene Gitter und begutachtete die aufgereihten Objekte. Wenn er noch etwas bewirken wollte, musste er sich beeilen. Er blickte flüchtig den Gang hinunter und griff instinktiv zu einer Pistole – er war ja schließlich Hauptschützer. Die linke Hand umfasste fest den Griff. Doch als er das Gewicht der Waffe spürte, begann seine 08/15-Prothese wie wild zu zucken. Der Schmerz seines verlorenen Armes und die damit verbundenen Gefühle von Schuld breiteten sich in seinem Körper aus, bis auch seine linke Hand zitterte. Die Waffe fühlte sich in seiner Hand wie glühender Stahl an und er ließ sie fallen. Er ballte seine Faust. Den Schmerz presste er hinaus.
Noch einmal blickte er den Gang entlang, sichtlich ungeduldig.
„Anders kann ich ihnen so eh nicht helfen…“
Er griff nach einem sehr abgenutzten Schild und mit seiner künstlichen Hand packte er einige der Munitionsgurte und warf sie sich über die Schulter. Sie waren mit weißer Sprühfarbe beschriftet worden. „Mensch“ stand darauf. Es waren Gummigeschosse. Extrem schmerzhaft, aber nicht tödlich.
Vollgepackt rannte er leicht humpelnd zum Lift, stellte er sich schnell hinein und drückte die Taste fürs Erdgeschoss. Die rostende Plattform begann sich in Bewegung zu versetzen. Mit jedem Meter, den er an Höhe gewann, wurden die Kampfgeräusche lauter. Gebrüll und Gewehrschüsse drangen zu ihm hinab. Der Geruch von Schießpulver wurde immer dominanter. Der Lift blieb stehen. Erik rückte sich den Helm zurecht, schloss kurz die Augen und atmete tief durch.
Dann rannte er so gut los, wie es seine Beinprothese und der ramponierte Innenhof der Kaserne zuließen. Er durchschritt den durch Planen abgedunkelten Korridor, vorbei an den Sanitätern und Lageristen, die im Hintergrund die Soldaten versorgten. Durch das große Nachschubtor erreichte er das Kampffeld. Den Schatten heraus trat er ins gleißende Licht hinein. Das grelle Leuchten ließ ihn für einen Moment erstarren. Schützend hielt er sich seinen halbdurchsichtigen Schild vors Gesicht. Dieser half ihm allerdings nur bedingt. Schnell mussten sich seine Augen an die Überreizung gewöhnen. Die beiden ihm nur zu gut bekannten Feuersäulen nahmen in weiter Ferne Gestalt an. Hinter ihnen, wie auch überall sonst am Himmel, breitete sich die violette Wolkendecke aus, die alles darüber verbarg.
„Dreckswelt“, fluchte er, während er sich wieder in Bewegung setzte. Vor ihm erstreckte sich eine karge Landschaft mit einer langen Straße aus zerstörtem Asphalt. Links und rechts waren vertrocknete, knochige Felder, die schon langsam begannen, sich in Staub aufzulösen. Hier und dort war eine tote Pflanze zu erkennen, die noch nicht gefressen oder von der Hitze der Feuersäulen ganz verbrannt worden war. Doch diesen Anblick blendete er aus. Er blickte zu seinen Kameraden, die vor ihm waren. In Zweierteams aufgeteilt bewegten sie sich in Formation vorwärts. Jeder der Jäger trug einen der Schilde vor sich und schoben diesen Schritt für Schritt weiter voran zur Front. Der Schützer stand hinter dem Jäger im Schutz des Schildes und schossen aus der Deckung heraus auf die anstürmenden Plünderer. Es war eine ausgereifte Taktik, besonders bei dem primitiven Kampfstil der Angreifer. Sie sprangen einfach hinter alten Gebäuderesten hervor und schossen, ohne zu zielen. Einige von ihnen rannten dabei wie wild auf die Base zu. Die meisten Kugeln landeten im Nirgendwo oder an der Außenmauer der Kaserne, kaum eine fand ihren Weg zu einem der Soldaten. Und wenn, dann erklang ein unspektakuläres Klacken, wenn die Kugel den faserverstärkten Polyacryl-Schild traf. Die Soldaten hingegen erwiderten das Feuer gezielt und in kurzen Salven. Nach einigen Treffern blieben die Angreifer dann vor Schmerzen am Boden liegen oder flüchteten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Es war ein einseitiger Kampf.
Erik rannte an die Front. Die ersten feindlichen Kugeln knallten gegen seinen Schild. Doch das war nichts, was ihn beunruhigte. Als er mit der vordersten Reihe aufgeschlossen hatte, schaute er links und rechts neben sich. Der Jäger neben ihm hatte keine Munition mehr, also gab er ihm ein kurzes Zeichen. Sie tauschten schnell die Plätze und der andere lief mit dem Schild zurück zur Base, um Nachschub zu holen. Erik, nun mit einem der Schützer hinter sich, legte die Gurte ab und löste die einzelnen Magazine, ohne den Blick von den Plünderern zu nehmen. Durch das verkratzte Schild hindurch versuchte er, alles im Auge zu behalten. Als er die Magazine nach hinten durchreichte, fiel dem Schützer sein Arm auf.
„Erik, bist du das? Schön, dass du auch endlich aus deinem Zimmer gekommen bist“, sagte er, als er das Magazin entgegennahm.
Plötzlich donnerte eine laute Explosion vom anderen Ende des Kriegsplatzes zu ihnen herüber. Erschrocken schauten die beiden hinüber zu der Rauchwolke, die sich links von ihnen ausbreitete. Aber auch alle anderen Soldaten erstarrten vor Schock.
„Was zum…“, sagte der Schützer hinter ihm.
Schlagartig erschallte erneut eine Explosion. Diesmal auf der anderen Seite des Schlachtfeldes. Durch den Schild hindurch erkannte er, wie jemand auf sie zulief. Doch die Art, wie er lief, erschien Erik irgendwie komisch. Vorsichtig blickte er an dem milchigen Schild vorbei um ein klaren Blick auf ihn zu werfen. Der Mann hatte einen dicken Knebel im Mund und seine Hände waren hinter dem Körper zusammengebunden.
Die werden doch nicht…, dachte er und schrie: „Deckung!!!“, doch es war zu spät. Ein Lichtblitz leuchte auf, als der Mann vor ihnen durch eine Explosion in Stücke gerissen wurde. Die Teams, die schon weiter nach vorn gerückt waren, wurden direkt erwischt. Sie selbst bekamen nur die Druckwelle ab, die Erik zusammen mit dem Schützer zu Boden warf.
Sein Kopf dröhnte. Das Blut pulsierte in seinen Adern. Er atmete stoßartig und spannte vorsichtig alle Muskeln im Körper der Reihe nach an. Mit geschlossenen Augen versuchte er so zu erkennen, ob er verwundet war. Doch neben den Körperteilen, die er ohnehin schon vermisste, schien er keine Verletzungen zu haben. Er atmete erleichtert durch.
„Ich lebe…“, sagte er angestrengt, als er sich aufsetzte. „Ich lebe“, wiederholte er. Hyperventilierend versuchte er das Schlachtfeld zu überblicken. Überall lagen seine Kameraden am Boden. Viele von ihnen wanden sich vor Schmerzen.
Um sich gegen einen weiteren Angriff zu schützen, richtete Erik seinen Schild wieder auf. Da fiel ihm etwas auf der Höhe seiner Augen auf. Ein Zentimetergroßes Loch wurde in das Polyacryl gerissen. Sofort drehte er sich zu dem Schützer hinter sich um. Er lag regungslos da. Immer noch den Schild starr Richtung Angreifer haltend kroch Erik zu ihm hin. Eine klaffende Wunde war an seinem Hals. Blut strömte ungehindert aus seinem Körper.
„Nein nein nein nein nein…“, murmelte Erik, „du darfst jetzt nicht sterben…“
Er öffnete das Visier des verwundeten Soldaten, um in sein Gesicht schauen zu können. Tiefblaue Augen voller Angst und Schmerz starrten ihn an. Sie flehten um Hilfe. Blut quoll aus seinem Mund. Erik blickte sich kurz um. Keine Gefechte waren zu sehen. Kein Gewehrschuss war zu hören. Eine Wolke aus Rauch und Staub bedeckte das Feld. Er ließ seinen Schild los und riss sich die Schutzweste vom Körper. Mit wenigen gezielten Bewegungen zog er die Feldbluse aus und wickelte sie um die Wunde. Dann nahm er die Hand des Soldaten und führte sie zu dem provisorischen Verband.
„Press so fest drauf, wie es geht. Du musst aber noch atmen können! Halt durch. Ich hole dich hier raus!“, schrie er ihn an. Dann packte er ihn an den Trägern der Panzerweste und begann, ihn rückwärts zur Base zu ziehen. Es kostete ihn viel Kraft, doch das Adrenalin pumpte durch seine Venen. Stoßartig atmete er ein und aus, im Rhythmus mit seinen Schritten. Als er die Hälfte des Weges geschafft hatte, sah er, wie weitere Soldaten an ihm vorbei zur Front rannten. Alle hatten sie Gewehre im Anschlag, niemand trug einen Schild. Der Schusswechsel begann wieder. Erik zog so schnell er konnte. Seine Brust schmerzte.
Endlich erreichte er das Nachschubtor und zog den Soldaten ein Stück in den Hof hinein.
„Medic!“, schrie er aus voller Kehle. Seine Stimme brach. „Medic!“
„Wir übernehmen!“ Ein Kamerad sprintete an ihn heran und drückte ihn zur Seite weg, griff umgehend zu der mittlerweile durchtränkten Bluse und entfernte sie. Er begann bereits, die Wunde weiter zu verarzten, als Erik noch einmal zurück zum Schützer blickte. Seine blauen Augen waren weit offen und blickten leblos zur Seite. Auch seine Hand, die den Verband hatte festhalten sollen, hing schlaff herab. Ein Gemisch aus Wut, Trauer und Hilflosigkeit stieg in Erik auf. Er fletschte die Zähne.
Plötzlich rief eine Stimme: „Erik! Bist du verletzt?“
Er drehte sich um. Amelie legte gerade einem anderen Soldaten einen Verband an.
„Ich hab‘ nichts abbekommen…“ Er atmete tief durch. „Alle anderen aber…“
„Was ist da draußen passiert?“, fragte sie.
Mit seinem menschlichen Arm zeigte er zitternd in Richtung der Front. „Diese feigen Arschlöcher haben irgendwelchen Leuten Sprenggürtel umgelegt. Mit Schrapnellen… Rufus ist tot.“
Amelie stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Noch bevor sie etwas sagen konnte, rannte Erik bereits wieder los. Durch das Tor hindurch, direkt dem Gefecht entgegen. Ohne Weste, ohne Schild. Er rannte, bis er jemanden vor sich liegen sah. Ein Versorgungssoldat der Nachhut, der Ausrüstung nach zu urteilen. Erik schmiss sich zu ihm auf den Boden.
„Kannst du mich hören?“, fragte er und schüttelte ihn. Er konnte keine Wunde ausmachen. Der Soldat nickte leicht. „Okay, das wird jetzt etwas unangenehm, aber halt durch!“, sagte Erik zuversichtlich und packte ihn an seiner Weste. Wie er es schon mit Rufus getan hatte, zog Erik auch ihn zurück zur Base. Dort erwartete ihn Amelie. Sie nahm den Soldaten sofort entgegen.
„Es sind noch mehr da…“, sagte er entkräftet und rannte erneut hinaus aus dem Tor. Seine Schritte waren schwer. Sein Brustkorb brannte bei jedem Atemzug. Doch er rannte weiter. Eine Staubwolke bedeckte weiterhin das Feld, als wenn der Boden selbst nicht sehen wollte, was auf ihm geschehen war. Erik sah den nächsten Soldaten vor sich liegen. Er kniete sich herab, doch es war bereits zu spät. Das Visier war zerstört. Genauso wie das, was es schützen sollte.
Erik atmete einmal durch, richtete sich auf und sprintete weiter. Auch der Nächste, den er auf dem Boden sah, musste von einer der Bomben erwischt worden sein. Er schloss voller Trauer dessen Augen und wünschte auch diesem Kameraden seinen Frieden. Plötzlich entdeckte er vor sich jemanden, der sich schmerzerfüllt hin und her wand. Als Erik näherkam, erkannte er, dass es kein Soldat war, sondern ein Junge. Er konnte sein Alter schwer einschätzen. Es spielte gerade auch keine Rolle. Seine Kleidung war zerschlissen, eine Wunde klaffte an seinem Oberschenkel. Der Junge war sicher nicht aus der Base. Nach kurzem Zögern packte er ihn schließlich und trug ihn auf seinen Armen zurück zum Tor. In dem Moment, als er das Kind einer Sanitäterin übergab, wurde Erik schwarz vor Augen.
*
Erik öffnete seine Augen und lag in seinem Bett. Jeder Muskel in seinem Körper brannte. Für gewöhnlich überkam ihn nach jedem Erwachen sein persönlicher Folterdämon, der ihn noch eine Weile leiden ließ. Doch nicht heute. Sein Körper und Geist waren bereits an ihrem Limit. Schmerzerfüllt kämpfte er sich auf. Nach einigen wackeligen Schritten konnte er seine Stube verlassen. Er blickte sich um. Einige Nachbarräume waren besetzt. Er hörte Stimmen aus ihnen. Auch standen die meisten Waffen wieder aufgereiht im Regal gegenüber. Das Gefecht war vorbei. Er entschied sich, beim Lazarett vorbeizuschauen. Dort lief sofort ein Sanitäter auf ihn zu.
„Erik, was tust du hier?“, fragte der Mann besorgt.
„Ich will nach den Verletzten schauen“, antwortete er ihm.
„Du siehst aber selbst nicht gut aus. Komm, ich helfe dir“, sagte er und legte Eriks Arm über seine Schulter. Vorsichtig betraten sie das Krankenzimmer. Dutzende Betten waren aufgebaut. Die meisten waren mit Blut beschmiert, einige sahen unberührt aus. Nur in drei von ihnen lagen überhaupt noch Personen. Erik schockierte der Anblick.
„Wo sind all die Verwundeten?“, flüsterte er kraftlos.
„Die meisten haben es nicht geschafft. Nur wenige konnten sich in Sicherheit bringen. Es sind leider kaum Soldaten zurückgekommen. Selbst als der Kampf vorbei war, haben sie uns nicht die Verletzten bergen lassen. Erst Stunden später haben sie sich endlich zurückgezogen. Da sind selbst weniger schwer verletzte Kameraden verblutet“, antwortete der Sanitäter.
Hinter ihnen erschien Amelie. Sie nahm einen der Stühle und stellte ihn hinter Erik, sodass der sich hinsetzen konnte. Dabei sagte sie: „Wir haben leider viele Fehler gemacht. Ein Großteil des Nachschubs und der Sanitäter sind nach den ersten Explosionen sofort Hals über Kopf ins Gefecht gerannt, um das Gebiet abzusichern. Hätten sie wie du einfach die Verletzten rausgezogen, hätten deutlich mehr überlebt. Besonders bei dieser Art von Wunden. Wir haben ganze Schrauben und Muttern aus den Wunden rausoperiert. Die Sprenggürtel müssen voll damit gewesen sein.“
„Aber warum? Wir haben denen da draußen doch überhaupt nichts getan, oder?“
„Sie wollen wohl so unseren Willen brechen. Sonst hätten sie nicht auf einen Schlag so viele wie möglich von uns getötet. Sie haben dabei sogar ihre eigenen Männer geopfert. Vielleicht hoffen sie, dass wir jetzt aufgeben und unseren Stützpunkt an sie übergeben. Es mag sein, dass es woanders funktioniert hat, WIR aber werden nicht nachgeben!“, sagte Amelie bestimmt.
Erik blickte auf. „Wie geht es ihm?“ Er nickte zu dem Bett, in dem der Junge lag, den er gerettet hatte.
„Soweit gut. Eins der Schrapnelle hatte ihn erwischt. Er muss zu den Angreifern gehören. Keiner auf der Base kennt ihn“, erklärte die Ärztin.
„Ich weiß nicht“, sagte Erik zögerlich. „Er ist doch so jung. Außerdem habe ich gesehen, dass die Selbstmordattentäter geknebelt waren. Ich glaube nicht, dass alle von den Angreifern unsere Feinde waren.“
„Das kann er uns selbst sagen, wenn er wieder wach ist“, sagte der Sanitäter.
„Ich bleibe so lange hier, geht das in Ordnung?“, fragte Erik.
„Natürlich, ich kann dir ja‘ne Decke und was zum Essen holen.“
„Danke.“
*
Ein gedämpfter Knall aus der Ferne weckte Erik. Er saß am Bett des Jungen und war mit dem Kopf auf seiner Matratze eingeschlafen. Erschrocken blickte er sich um. Eine dünne Stoffdecke fiel von seinen Schultern, als er aufstand. Der Junge lag nicht mehr in seinem Bett. Die anderen beiden Patienten schliefen noch. Als er sich zum Ausgang schleppte in Richtung des Knalls, schmerzte ihm noch immer sein ganzer Körper. Im Vorzimmer sah er auf einmal eine Frau auf dem Boden liegen.
„Scheiße, was ist hier passiert?“, fluchte er und beugte sich herunter. Vorsichtig drehte er die Krankenschwester auf den Rücken und erblickte ein Messer, das ihr aus dem Bauch ragte. „AMELIE!“, schrie er laut. Blut floss noch aus der Wunde. Mit beiden Händen versuchte er darauf zu drücken. „AMELIE! Komm schnell her!“, schrie er erneut. Die Tür öffnete sich und die große Frau trat hinein.
„Erik? Was schreist du…“ Sie brach den Satz ab, als sie die Schwester auf dem Boden liegen sah. Sofort rannte sie zu einem der Schränke, holte einen Koffer heraus und beugte sich dann neben ihm zu ihr herunter. Während sie vorsichtig das Messer entfernte und die Kleidung hochzog, fragte sie: „Was ist hier passiert?“
„Ich habe keine Ahnung, ich bin eben erst durch den Knall aufgewacht. Aber der Junge ist weg“, sagte er Böses ahnend.
„Hilf mir bitte, sie auf den Tisch zu legen“, wies Amelie ihn an und packte die Frau unter den Schultern. Erik nahm die Beine. Beide atmeten tief ein und hoben sie dann hoch auf den OP-Platz. Plötzlich knallte es erneut. Amelie wie auch Erik schauten beide in die Richtung des Ursprungs.
„Brauchst du mich noch?“, fragte er.
„Ich komm jetzt alleine klar“, antwortete sie.
„Okay“, antwortete er und ließ von der Frau ab.
Erik lief den Gang entlang. Auf der Höhe des Liftes, der von einem Treppenhaus umgeben war, begegnete er einem Kameraden, der am Geländer stand und nach unten starrte. Sein Arm hing in einer Schlaufe und eine Krücke stützte seinen Körper.
„Hast du den Knall gehört?“, fragte Erik ihn.
„Ja, es hat sich wie ein Pistolenschuss angehört. Er kam von unten“, sagte er.
„Danke!“ Erik lief die Treppe herunter. Beim Rennen flüsterte er zu sich: „Eine Ebene tiefer ist Eden… in den Ebenen drunter ist normalerweise niemand, also können die Schüsse nur von dort kommen.“
Er rannte aus dem Treppenhaus hinaus und den Gang hinunter. Er wurde langsamer. Vor dem Eingang zu Eden stand der Junge, den er gerettet hatte. Er trug eine Pistole bei sich. Wie erstarrt blickte er durch die Tür, durch die weißes Licht strahlte. Als Erik näherkam, bemerkte ihn der Junge und hob seine Waffe. Der Lauf zeigte nun auf Eriks Brust. Besonnen hob er die Hände. Der Junge schaute wieder nach Eden. Als Erik vorsichtig näherkam, schaute er ebenfalls hinein. Auch wenn es ihn nicht regelmäßig nach hier unten verschlug, wusste er ziemlich genau, wie es in Eden aussah. Es war ein riesiger Raum, so hoch wie zwei Etagen, in der Mitte der Decke hing eine große Kugel, die kräftiges weißes Licht in alle Winkel der Halle warf. Der Boden war bedeckt mit Erde. Erik wusste das, doch sehen konnte man sie nicht, denn die gesamte Halle bestand aus einem Meer aus Pflanzen. Es war ein unterirdisches Feld, weg von der tristen, unwirtlichen Welt da draußen.
Als Erik hineinschaute, sah er zwei Männer am Boden liegen. Bewegungslos. Er blickte zu dem Jungen auf und stammelte leise: „Das sind Zivilisten. Sie wissen nicht mal, wie eine Waffe funktioniert… Warum hast du auf sie geschossen?“
„Sie wollten meine Pistole“, antwortete der Junge monoton.
„Aber sie waren unbewaffnet… Darf ich ihnen helfen?“ Erik bewegte sich in die Richtung der Männer, doch der Junge hielt ihn auf.
„Nein! Nimm den Sack dort und mach ihn voll!“
Erik war geschockt, aber er folgte den Anweisungen. Er ging zu den Kisten, die neben der Eingangstür gestapelt waren und begann, die rohen Lebensmittel in einen Sack zu füllen. Kartoffeln, rote Beete und Rettich packte er ein. Dann drehte er sich um und sagte: „Okay, jetzt nimm es und geh. Die beiden brauchen meine Hilfe!“
„Nein, du bist noch nicht fertig. Du trägst den Sack und gehst voraus. Die beiden haben sowieso gekriegt, was sie verdienen!“, entgegnete der Junge mit Wut in der Stimme. „Ihr habt so viel Essen hier und teilt es nicht. Wir verhungern da draußen! Niemand von euch hat es verdient zu leben!“
„Aber…“, sagte Erik völlig entgeistert, „aber was wir haben, reicht nicht mal für uns selbst! Wir leben hauptsächlich von alten Kriegsrationen und…“
„Klappe!“, schrie der Junge. „Geh los!“
Erik hielt den Sack mit beiden Armen fest und ging in Richtung Lift. Hinter ihm folgte der Junge mit der starr auf ihn gerichteten Waffe. Sie stiegen ein.
„Bring mich hier raus!“, befahl der Junge.
Erik drückte einen Knopf und der Lift hob ab.
„Du bist kein Gefangener, du brauchst mich nicht als Geisel nehmen“, sagte Erik in dem Moment, als der Lift anhielt.
„Sei endlich still“, brüllte der Junge, „und geh voraus!“
Wieder setzte er sich in Bewegung. Mit dem Jungen direkt hinter sich ging er durch den Hof zum Versorgungstor. Überall standen Leute um sie herum und schauten erstarrt zu. Niemand griff ein.
„Löst doch jemand den Alarm aus!“, flüsterte jemand.
Erik sagte daraufhin laut: „Alles wird gut. Schickt lieber Hilfe runter nach Eden! Da sind Verwundete!“
Als sie das Versorgungstor durchschritten, sagte der Junge: „Gib mir den Sack.“
Erik übergab die Lebensmittel. Dabei holte er tief Luft und sagte: „Hier hast du dein Essen, jetzt geh und komm nie wieder!“
Plötzlich hörte er zwei Schüsse. Er blickte hinab und sah, wie sich sein Shirt rot färbte. Sein Körper wurde taub und er brach zusammen. In der Ferne erkannte er noch, wie der Junge davonlief.
*
Erik erwachte. Er fühlte sich schwach. Das laute Geheul der Alarmsirene und ein andauernder Schusswechsel hatten ihn aus der Leere geholt. Vorsichtig öffnete er die Augen. Er lag in einem Krankenbett. Das Licht war aus, nur die rote Alarmleuchte erhellte schwach das Krankenzimmer. Er war nicht allein. Im gesamten Raum saßen Leute auf den Betten oder auf dem Boden. Der Kleidung nach zu urteilen waren es keine Patienten, sondern Sanitäter und Krankenpfleger. Viele Zivilisten. Amelie war auch da. Sie saß neben der Tür, die durch ein umgeschmissenes Bett verbarrikadiert worden war.
Erik schlug die Decke zurück. Ein höllischer Schmerz durchfuhr seine rechte Seite. Langsam setzte er sich auf, während er vorsichtig Brust und Taille abtastete.
„Das fühlt sich irgendwie unnormal an… Was hast du mit mir gemacht?“, fragte er beunruhigt und zuckte zusammen, als er eine schmerzhafte Stelle berührte.
Amelie bemerkte ihn. Sie stand umgehend auf und ging schnell zu ihm rüber.
„Erik, du bist wach! Wie fühlst du dich?“
„Schwach…“, antwortete er. „Was ist mit mir passiert? Und was ist hier los? Warum verschanzt ihr euch im Krankenzimmer?“
Alle schauten betrübt zu Boden. Amelie begann, einige Tests an ihm zu machen. Sie schaute in seine Augen, prüfte Puls und Blutdruck und horchte sehr intensiv seine Lunge ab.
Dabei erzählte sie: „Irgendwie hat alles mit dir begonnen. Der Junge, der dich niedergeschossen hat, ist zurück zu den Plünderern gerannt. Zwei Tage später sind sie dann zurückgekehrt, mit dreimal so vielen Männern wie sonst. Wir konnten sie mit Mühe und Not zurückdrängen, indem wir sie von der Brustwehr aus mit allem befeuert haben, was wir hatten. Aber sie haben unsere eigenen Schilde verwendet, die sie vom Kampf vorher mitgenommen hatten. Selbst die scharfe Munition hat nichts gebracht. Eine Woche später waren sie dann wieder da, ebenso wie vor einer Woche. Wieder mit unseren Schilden. Wir haben die letzten beiden Male sogar die alten Fahrzeugwaffen auf die Mauern gebracht. Heute ist uns dann die Munition für die schweren MGs ausgegangen. Wir konnten sie nicht mehr aufhalten und sie haben unsere Verteidigung durchbrochen. Auch der Junge ist wieder hier, zusammen mit einem Mann, der auch schon die anderen Male gesehen wurde. Er trägt ein altes Barrett und eine Machete, was für diese Möchtegernmilizen eigentlich untypisch ist. Er scheint der Anführer zu sein. Jetzt sind sie hier in den unteren Ebenen und scheinen unsere Base zu plündern. Unsere letzten Kameraden sind da draußen und versuchen sie zu vertreiben. Und wie du sehen kannst, warten wir hier einfach nur und hoffen, dass sie das Interesse verlieren und verschwinden.“
„Aber… sie werden alles mitnehmen. Alle Vorräte, Waffen, jede Pflanze aus Eden. Wir werden alles verlieren!“
„Außer unser Leben“, erwiderte Amelie bestimmt.
„Wenn wir nichts mehr haben, sind wir in dieser Welt schon so gut wie tot. Nur, dass wir uns vor Hunger gegenseitig zerfleischen, bevor wir sterben. Lass mich hier raus! Ich muss sie aufhalten.“
Erik riss sich einen Katheter aus dem Arm und wollte Selbiges bei dem am Hals machen. Er musste jedoch schmerzhaft feststellen, dass der festsaß.
Amelie ergriff seine Hand und blickte ihn boshaft an. „Du bist doch des Teufels! Willst du hier verbluten?! Weißt du eigentlich, WIE schlecht es um dich steht?! Du lagst hier über drei Wochen im Koma! Du hast schon drei Rippen und ein Stück deiner Lunge verloren! Ich kenne viele, die sind an leichteren Verletzungen gestorben!“
„Wenn ich eh schon so gut wie tot bin, kann ich es auch zu Ende bringen. So wie ich das nämlich sehe, bin ich an der ganzen Situation hier schuld“, sagte Erik schroff.
„Du ka…“, versuchte sie ihm zu widersprechen, aber er hob nur sein Gesicht und blickte ihr tief in die Augen.
„Hätte ich den Bengel nicht gerettet, würden viele, die da draußen gerade um ihr und unser Leben kämpfen, nicht sterben. Deswegen ein letztes Mal, Amelie: Mach mich von dem Ding hier los und lass mich aus dem Zimmer!“
Amelie schluckte. Dann nickte sie zögerlich und begann den Halskatheter von der Infusion zu lösen. Erik stand vom Bett auf und drehte sich zu dem Beistelltisch, auf dem seine Kleidung lag. So schnell er konnte begann er sein Krankenhemd gegen seine Uniform zu wechseln. Dabei war ihm egal, dass die Anwesenden ihn anstarrten. Als er fertig war, schaute er sich im schwach beleuchteten Raum um.
„Du!“ Er zeigte auf einen der Sanitäter. „Wenn du dich hier verschanzt, brauchst du doch deine Ausrüstung nicht. Gib Sie mir.“
Der Sanitäter zögerte, stimmte aber schließlich zu. Er legte seine Rüstung ab. Erik zog davon die Weste an und setze sich den Helm auf.
„Willst du auch die Waffe?“, fragte der Mann und zog seine Pistole aus dem Halfter.
Eriks prothetischer Arm begann allein bei dem Gedanken zu schmerzen, weshalb er schnell ablehnte. „Muss ohne gehen.“
Erik stand schon an der Tür bereit, als Amelie und die anderen das Bett zur Seite zogen. Er schloss auf und sprang hindurch. Kaum draußen hörte er, wie hinter ihm der Durchgang wieder verbarrikadiert wurde. Geduckt bewegte er sich vorsichtig im Vorraum voran, bis er in den Flur blicken konnte. Und da stand auch schon derjenige, den Erik gesucht hatte. Mittig der nächsten Gangkreuzung befehligte ein riesiger Mann mit Barrett und Machete die Angreifer. Erik verstand nicht, was er sagte, doch war seine Ausdrucksweise rau und seine Stimme dunkel. Direkt zwischen Erik und dem Hünen stand ein Angreifer, nicht unweit von Erik entfernt. Er war ihm mit dem Rücken zugewandt und trug einen der Schilde, die er von den Soldaten der Base gestohlen hatte.
Erik nutzte die Chance und sprintete auf ihn zu. Der Anführer, aber auch die anderen um ihn herum bemerkten ihn, doch für sein Ziel war es zu spät. Erik schlug ihn mit seiner künstlichen Rechten nieder und packte dabei die Griffe des Schildes mit seinem linken, gesunden Arm. In diesem Moment brach ein Schussgewitter los. Hinter dem zentimeterdicken Acryl war er vorerst geschützt. Zumindest für eine Weile. Die Einschüsse färbten das sonst farblose Material weiß und zermürbten es zunehmend.
Erik schritt mit dem Schild weiter auf den Anführer zu, der sich jedoch nicht beeindrucken ließ. Mit dem gezogenen Gewehr feuerte er ebenfalls Salven auf ihn ab, bis Erik direkt vor ihm stand. Erik holte aus und rammte dem Anführer die Kante des Schildes ins Gesicht. Währenddessen schlugen einige Projektile ein, die jedoch von der Weste und dem Helm abgewehrt wurden. Erik trat das Gewehr zur Seite und ging blitzschnell in Verteidigungsposition über dem am Boden liegenden Anführer, der nun eine blutende Platzwunde unter dem Auge besaß. Bewusst kniete er sich direkt auf seinen Oberkörper.
Zunächst war der Mann wütend, dann begann er plötzlich zu lachen. „Ist das dein Ernst? Du kommst hier an, machst einen auf dicke Hose mit dem Schild und bringst nicht mal eine Waffe mit? Ihr Turm-Bewohner seid echt beschränkt.“ Erik fletschte die Zähne, doch der Anführer redete einfach weiter: „Monatelang habt ihr uns nur mit Gummi beschossen. Erst, als es zu spät war und wir euch eure teuren Hightechschilde genommen haben, habt ihr angefangen, echte Kugeln zu nehmen.“ Er hustete. Eriks Gewicht drückte auf seine Lunge. Mit kurzen Atemzügen fuhr er fort: „Ich habe das Gefühl, dass ihr einfach alle sterben wollt. Nicht einen Tag würdet ihr da draußen überleben, in der echten Welt. Ihr seid alle zu feige, euch die Hände schmutzig zu machen und jemanden umzulegen.“
In dem Moment packte der Anführer seine Machete und zog sie aus seinem Gürtel. Erik aber ergriff reflexartig die Hand mit seiner Prothese und quetschte die Finger, bis Blut heruntertropfte. Mit einem schmerzerfüllten Schrei ließ der Mann die Klinge zu Boden fallen.
„Und ausgerechnet du“, sagte Erik, der mit seiner Rechten nun selbst zur Machete griff, „begegnest hier jemandem, dessen Hände schon schmutzig sind.“
Ohne zu zögern, durchschnitt Erik die Kehle des Mannes. Blut spritzte in sein Gesicht. Erik schloss die Augen. Der Zorn und der Schmerz in ihm wurden nicht weniger. Nur sein Selbsthass wuchs weiter. Doch er wusste, dass er noch nicht fertig war. Langsam richtete er sich wieder vollständig auf und gab für die anderen den Blick auf die Leiche frei. Schlagartig verstummten die Schüsse. Erik nutzte das aus und rannte zum nächsten Angreifer hin, der ein Gewehr trug. Mit einem schnellen Zug schlitze er ihm die Brust auf. Dann rannte er unter erneutem Beschuss zum Nächsten und rammte ihm die Klinge in den Hals. Wie ein Besessener griff er nacheinander jeden noch stehenden Plünderer an, immer mit dem Schild voran, bis niemand in dem Flur mehr auf den Füßen stand.
Plötzlich hörte er etwas hinter sich. Er drehte sich mit erhobenem Schild um und erblickte Amelie, die aus dem Lazarett herausblickte.
Erschüttert über den Anblick fragte sie mit zitternder Stimme: „Was hast du getan?“
„Das, was nötig war…“, antwortete er kühl und blickte auf die blutverschmierte Machete in seiner Hand. Dann schritt er in Richtung des Liftes.
„Und was hast du jetzt vor?“, fragte sie mit ernstem Ton.
„Das, was nötig ist…“, antwortete er.
Als der Lift die Etage erreichte, stieg er hinein und verschwand nach unten. Amelie bewegte sich langsam zu einem der Toten und kniete sich hin. Fassungslos hielt sie sich die Hand vor den Mund.
„Oh Gott…“
*
Es vergingen einige Tage. Die Angreifer, die sich selbst Gefallene nannten, hatten sich nicht mehr in der Nähe der Base blicken lassen, seit sie Hals über Kopf geflohen waren. Die überlebenden Bewohner säuberten und befreiten die Gänge von den Leichen und Kampfspuren. Auch wenn es allen Beteiligten schwerfiel, kehrte wieder Routine ein. Amelie war dabei, ihre Notizen über die vielen Patienten zu schreiben, als sie Erik energisch über den Flur rennen sah. Er trug mehrere Kisten vor sich, wodurch er nicht mehr sehen konnte, was vor ihm lag. Kaum hatte Amelie ihn erblickt, stieß er mit einem der Soldaten zusammen. Die Kisten fielen herunter und verschiedenste Bauteile verteilten sich auf dem Boden.
Noch bevor irgendwas anderes passieren konnte, brüllte Erik den Soldaten an: „Hast du keine Augen im Kopf? Wenn du siehst, dass jemand etwas durch die Gänge trägt, mach ihm gefälligst Platz! Oder willst du inkompetenter Straßenpfeiler weiterhin jedem im Weg rumstehen?!“
Der schockierte Soldat begann gleich wortlos die Bauteile aufzuheben. Als er fertig war, zog er sich geduckt zurück in seine Stube. Alle, die drumherum standen, starrten Erik erschrocken an, er blaffte aber nur: „Schaut nicht so blöd, ihr seid kaum fähiger!“
Amelie tauchte hinter ihm auf.
„Was soll das werden?“, fragte sie.
Erik blickte auf die Kisten. Dabei antwortete er: „Wir haben kaum noch Vorräte. Damit wir langfristig überleben, will ich noch eine Ebene unter Eden ausbauen. Hydrokulturen können uns mehr Ertrag liefern als ein einfaches Feld.“
Amelie schüttelte den Kopf. „Nein, ich meinte, warum hast du ihn gerade so rund gemacht? So werden sie dich nicht akzeptieren.“
„Die Menschen hier…“, sagte er und wurde immer ruhiger, „sie müssen mich nicht akzeptieren, sie müssen nur funktionieren. Nochmal darf so etwas hier nicht passieren.“
Erik packte seine Kisten und ging. Erst dann bemerkte Amelie, dass an seinem Gurt die Machete hing. Sie schüttelte den Kopf.
„Ach Erik… Was ist nur aus dir geworden…“